09.07.2011

Regel 36 - Geben und Nehmen

This world is erected upon the principle of reciprocity. Neither a drop of kindness nor a speck of evil will remain unreciprocated. Fear not the plots, deceptions or tricks of other people. If someone is setting a trap remember so is God. He is the biggest plotter. Not even a leaf sits outside of God’s knowledge. Simply and fully believe in that. Whatever God does He does beautifully.

Diese Welt ist auf dem Prinzip der Reziprozität gegründet. Weder ein Tropfen von Freundlichkeit noch ein Funken des Bösen wird ohne Rückwirkung bleiben. Fürchte dich nicht vor den Hinterhältigkeiten, Täuschungen oder Tricks von anderen Menschen. Wenn jemand eine Falle aufstellt, denke daran, dass das Gott auch so macht. Er ist der größte Verschwörer. Kein einziges Blatt befindet sich außerhalb Gottes Wissens. Glaube einfach und ganz daran. Was immer Gott macht, macht er wunderschön.

Das Gesetz der Reziprozität besagt, dass das, was gegeben wird, wieder zurück kommt. Die Gesamtenergie bleibt erhalten, es finden nur Umwandlungen in der Form, welche die Energie annimmt, statt. So haben wir es von den Physikern gehört. Also gibt es nur Transformationsprozesse, die eine Form der Materie verwandelt sich in eine andere, und das Ausmaß des Ganzen bleibt immer gleich. Alles, was existiert, gibt fortwährend vom Eigenen und nimmt vom Anderen, und die Summe all dieser Aktionen ändert sich dadurch nicht.
Wie ist es unter den Menschen? Hier gibt es unüberblickbar viele Ebenen, auf denen ein Austausch stattfindet, vom Atmen über die sozialen und ökonomischen Prozesse bis zu ätherischen und feinstofflichen Bereichen. Eine detaillierte Erörterung all dieser Vorgänge und der ihnen innewohnenden Logiken ist in diesem Rahmen natürlich nicht möglich.
Da wir eine Neigung haben, Komplexitäten zu reduzieren und die Welt damit überschaubarer zu machen, finden esoterische Vereinfachungen der Reziprozität viel Beachtung, wie z.B. das Gesetz der Attraktivität, das besagt, dass wir immer das anziehen, was wir aussenden („The Secret“). Wir sollten bei solchen Konzepten darauf achten, dass sie zu einem Machbarkeitswahn verleiten: Wenn wir nur richtig aussenden, kriegen wir genau das, was wir uns wünschen. Das Universum ist dazu da, unseren Wünschen zu dienen. Wir können, wenn wir uns auf die richtige Weise auf das große Ganze einschwingen, alles erreichen, was wir uns nur erträumen. Wenn wir es nicht schaffen, liegt der Fehler bei uns, wir haben die entsprechenden Techniken nicht konsequent genug angewendet.
Das ist die Schiene des materialistischen Bewusstseins, das glaubt, nur die passenden Verfahrensweisen erschaffen zu brauchen, um die Welt beherrschen zu können und sich solcherart alle Wünsche erfüllen zu können. Wir können aus Stroh Gold gewinnen und damit fortdauernd unsere Reichtümer mehren, mehren und mehren. Das ist das Märchen der kapitalistischen Macher, und solche Märchen werden gerne von den esoterischen Propheten abgekupfert.
Esoterik kann meiner Ansicht nach von Spiritualität dadurch unterschieden werden, dass die erstere sich nicht klar, eindeutig und unwiderruflich von Manipulation und Egostärkung unterscheidet. Viele esoterische Erkenntnisse werden zum Zweck der individuellen Lebensverbesserung und Selbststeigerung vermarktet und gekauft. Spirituelle Erkenntnisse „bringen“ in diesem Sinn nichts, sondern können im besten Fall eine Person erreichen und berühren, sodass sich in ihr etwas ändert und damit die Welt eine neue wird. Wenn wir auf  Weisheiten stoßen, die uns ansprechen und anpacken, können wir darauf achten, was sich in uns weitet: Unser liebendes Herz oder unser gieriger Bauch.
Was können wir aus dem Konzept der Reziprozität für unsere Lebenspraxis gewinnen? Ich möchte hier versuchen, den Bereich des Gebens und Nehmens näher zu beleuchten. Ausgehend von dem Bild des Menschen als Egomanen glauben wir von uns selbst, dass wir lieber nehmen als geben. Wir kennen deshalb viele Regeln, die uns das Geben erleichtern sollen: Gebe, und es wird dir gegeben. Was du willst, dass dir gegeben wird, gib zuerst selber. Geben ist seliger als Nehmen, usw. Die Befolgung dieser Regeln fällt uns ja nicht immer leicht, weil sie unserem Eigensinn entgegenwirken.
Die Erkenntnis aber, die in ihnen steckt, besagt, dass wir in uns die Möglichkeit haben, den Lauf der Dinge zu verändern, in die Richtung, die dem Leben dient oder in jene, die ihm schadet, die Richtung also, die die Liebe mehrt oder jene, die sie schmälert. Wir finden immer wieder Angelpunkte in unserer eigenen Geschichte, im Grunde in jedem Moment. Angelpunkte sind solche, an denen etwas Neues beginnen will. Wenn wir diesen Neubeginn bewusst setzen, dann hören wir auf, die alten Fäden wieder und wieder weiterzuspinnen, und geben stattdessen: Wir geben dem Leben eine neue Richtung, eine, die öffnet und freier macht. Wir hören auf zu nehmen, also das Bereitstehende für unsere Zwecke zu nutzen, die ausgefahrenen Geleise zu befahren – wir springen „über unseren Schatten“.
Denn zum Schatten wird das Verbrauchte und Bequeme, an dem wir uns festgeklammert hatten, sobald es verflossen war und hinter uns lag. Folgen wir hingegen dem Mut, Neues auszuprobieren und damit aus der tiefen inneren Quelle der Kreativität zu geben, das Leben zu bereichern und zu verschönern, dann bewegen wir uns aus dem Schatten heraus, zur Sonne, zum Licht. Was wir für dieses Geben zurück bekommen, spüren wir im Moment, in dem wir das Neue vollbringen: Ein einfaches, aber klares Gefühl der Freude und Befriedigung stellt sich ein. Das ist die sofortige Belohnung für unsere Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit dem Leben gegenüber.
Das Leben gibt uns also die unmittelbare Anerkennung, sobald wir selbstlos und uneigennützig gegeben haben. Somit stellt sich das reziproke Gleichgewicht sofort ein und es bedarf keiner weiteren Gegenleistung. Der Zyklus schließt sich im Akt des Gebens und in der unmittelbaren Rückmeldung des Lebens.
Wir neigen allerdings dazu, gleich den nächsten Zyklus zu öffnen und damit zu übersehen, dass wir die Belohnung schon bekommen haben. So erwarten, fordern oder wünschen wir uns eine andere Form des Bekommens, sobald wir gegeben haben. Wenn ich A gebe, erwarte ich, B zu bekommen. Damit enge ich die Welt ein auf B, nur B kann mich zufrieden stellen; auch wenn ich C bekomme, bin ich enttäuscht (außer C ist eine Steigerung von B, das kann mir über die Enttäuschung hinweghelfen, wenn ich also für etwas, was ich jemandem gegeben habe, statt der Einladung zu einem Getränk die Einladung zu einem Abendessen kriege.) Jedenfalls tue ich so, dass die Welt, also meistens die anderen Menschen, genau wissen sollen, was ich brauche, um mich reziprok ins Gleichgewicht zu bringen.
In vielen Bereichen funktioniert die Wirklichkeit annährend so – ich nehme eine Ware und gebe dafür das Geld her, das auf dem Preisschild steht. Das ökonomische = materialistische Bewusstsein hat die Welt so eingerichtet, dass möglichst jedes Ding und jedes Tun einen eindeutigen Zahlenwert bekommt, eine Quantifizierung, die den zu erbringenden Gegenwert ausweist.
Von daher kommt auch die folgende Idee: Ich produziere, also gebe einen Wert, z.B. eine Torte, die ich produziert habe, und will dafür einen Gegenwert, z.B. einen bestimmten Geldbetrag. Eben diesen Zusammenhang hat Karl Marx als Entfremdung beschrieben. Für unser Thema heißt das, dass wir uns von unserem eigenen Tun entfremden, wenn wir es einer Quantifizierung unterwerfen, es ist dann nicht mehr unser eigener Beitrag zur Welt, sondern ein Produkt, das der Logik der Warenwelt unterliegt.  Eine der Folgen dieser Form der Reziprozität liegt darin, dass nicht nur die Ergebnisse menschlicher Arbeit verdinglicht werden, sondern außerdem, dass diese Dinge dann quantifiziert, d.h. in Zahlenwerte umgewandelt werden. Schließlich bleiben nur noch Zahlen, aus denen die Innenwelt des kapitalistischen Menschen besteht, dessen Befindlichkeit parallel zum Steigen und Fallen der Zahlen seiner Kontostände abläuft.
Sollen wir also für nichts mehr Geld verlangen? Die Gesellschaft, die ohne Geld funktioniert und trotzdem einen hochkomplexen Austausch von Waren und Dienstleistungen regeln kann, muss erst erfunden werden. Bis dahin müssen wir mit ihr leben und ihre Nachteile in Kauf nehmen. Wenn wir uns bewusst machen, was in den ökonomischen Prozessen einer kapitalistischen Welt abläuft, können wir zugleich die menschliche Dimension dieser Austauschvorgänge lebendig erhalten. Wir können uns immer wieder vergegenwärtigen, dass in jedem Ding, das wir erwerben, die Arbeit von Menschen steckt, und dass auch jeder, der uns das Ding verkauft, ein Mensch ist, der gibt. Es liegt an uns und unserer Bewusstheit, ob wir dem Kapitalismus die Macht geben oder der Menschlichkeit, indem wir jede Form des Gebens und Nehmens als eine spirituelle Übung verstehen. Dann entgehen wir den Fallen, die uns die raffinierte Warenwelt mit ihren verdinglichten Verlockungen an jeder Ecke aufgestellt hat.

Die Regeln sind dem Roman von Elif Shafak  “The Forty Rules of Love” (2010) entnommen. Diese "Regeln" sind aus dem Schreiben des Romans entstanden und durch die mystischen Lehren des Sufismus inspiriert. www.elifshafak.com
In deutscher Übersetzung ist das Buch 2013 im Kein&Aber-Verlag erschienen. 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen